pulp.noir Bad Blood

Projekt

Donnerstag 04.10.2007 – Sonntag 07.10.2007

pulp.noir Bad Blood

Künstler
pulp.noir

Variationen des Banalen
Live-installation für 2 Musiker, 2 Texter und Video

Do / Fr / Sa / So
4 - 7 Okt. 2007

Einlass 20h und 21h

Die Performance dauert 1 h
und wird als Endlosschleife
wiederholt.

"Sie hatten die Möglichkeit, ihre Biografie zu ändern, das wünscht man sich
manchmal, und was dabei herauskommt: Variationen des Banalen." (Max Frisch)

Die Gruppe pulp.noir geht in ihrem vierten Projekt selbstähnlichen Strukturen nach und findet so zur Frage, was herauskommt, wenn man ein neues Leben erlangt und noch einmal von vorne beginnen kann.
Sprach/Video-Performance ............. Yoshii Riesen
Kenneth Huber
Musik/Video-Performance................ Michael Bucher
Marius Peyer
Konzeption, Gesamtkomposition .... Thomas Fischer
Realisation, Produktion, Licht ......... Julia Maria Morf
Ausstattung ..................................... Nataly Huonder
Video ............................................... Mischa Eberli
Softwareentwicklung ....................... Pe Lang
Raumkonzeption ............................. Roland Hausheer
Künstlerische Mitarbeit ................... Balthasar Zimmermann
Ton .................................................. Gabriel Bachmann
Thomas Winkler
Technische Leitung .......................... Michel Güntert
Assistenz ......................................... Rahel Lüchinger
PR, Werbung .................................. Marion Baumgartner
Grafik Design ................................... dreamis.ch


Fuge [lat./ital. fuga "Flucht"] ist ein Musikstück von 2 bis 4, seltener mehr Stimmen, die einander imitierend hinterherlaufen. Eine Fuge beginnt einstimmig mit dem Thema, das dann nacheinander in allen Stimmen erscheint, bis Vollstimmigkeit erreicht ist. Die Stimmen sind selbständig und gleichberechtigt und enthalten das gleiche musikalische Material.
(Cornelsen, Musiklexikon)

Improvisation [von lat. "aus dem Stegreif spielen"], Gleichzeitigkeit musikalischer Erfindung und klanglicher Ausführung, spontane Variierung vorgegebener melodischer oder rhythmischer Grundmuster. Vgl. Aleatorik, Indetermination.
(Insel, Wörterbuch der Musik)

Im Grunde bin ich ein unfähiger unwissender Mensch, der wenn er nicht gezwungen, ohne jedes eigene Verdienst, in die Schule gegangen wäre, gerade imstande wäre in einer Hundehütte zu hocken, hinauszuspringen, wenn ihm Frass gereicht wird und zurückzuspringen, wenn er es verschlungen hat.
(Franz Kafka, Tagebücher)

Ich verlasse Europa. Seewinde werden mir die Lungen ausbrennen, verlorene Klimate die Haut mir beizen. Schwimmen, Gras brechen, jagen, rauchen vor allem, Branntweine trinken, stark wie kochendes Metall – es treiben wie die herzigen Ahnen am Feuer. Ich werde zurückkehren, mit dunkler Haut, wild leuchtendem Auge, eisenhart.
(Arthur Rimbaud, Schlechtes Blut)

Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.
(André Breton, Manifest des Surrealismus)

Inhalt
"Ich ist ein anderer" und "Ich habe nie zu diesem Volk gehört" schmettert Arthur Rimbaud
in seinem Gedicht Mauvais Sang voller Wut in die Welt hinaus – und gibt damit dem Projekt
den passenden Grundton und den Titel. Unzufriedenheit, Fehler und Mängel im eigenen
System, das Gefühl, sein Leben nicht selber bestimmen zu können, lassen einen vielleicht
gegen die eigene Existenz wüten. Auch Max Frisch versammelt häufig Protagonisten,
die ab ihrer momentanen Situation genervt und angewidert sind. Was ihnen an Möglichkeiten
zur Verfügung steht, ob erworben oder vererbt, hat sich verbraucht, beginnt sich
zu wiederholen. Aus Frust über solche Wiederholung und Eintönigkeit verleugnen sie sich
hartnäckig und behaupten neue Identitäten: "Ich bin nicht Stiller" und "Mein Name sei Gantenbein"
– nur um letztendlich wieder, mehr oder weniger unverändert, am Ausgangspunkt
anzugelangen. Die aus der fraktalen Geometrie bekannten sich selbst replizierenden Strukturen
von Benoît Mandelbrot liefern eine schöne bildliche Übersetzung dazu: mit jedem
Schritt gehen die Figuren wieder in sich selbst über. Wir haben nur dieses eine Leben oder
überhaupt keines, können uns also nicht entfliehen. Die Wehr gegen die eigene Identität,
gegen das Bild, das andere von einem haben, und gegen das unvermeidliche Verwachsen
mit dem vorbestimmten Leben ist umsonst, ist zum Scheitern verurteilt.
Der virtuelle Raum im Internet gestattet, was die Wirklichkeit nicht in gleichem Mass gestattet:
zu ändern und zu probieren. Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung – fast alle Parameter
lassen sich neu erfinden. Hier hat man keine Geschichte, hier ist man ein unbeschriebenes
Blatt, eine Tabula rasa. So schreiben sich die vier Spieler auf der Bühne verschiedene
Rollen auf den Leib und testen die fingierte Identität auf das Feedback aus dem
Cyberspace. Alle suchen sie die Gelegenheit, ihr Leben befriedigender zu gestalten, doch
sie machen es jeweils nicht wirklich besser, sondern scheinen in ihrer verdrussbringenden
Handlungsweise gefangen zu sein. Hinter jeder neuen Rolle, die sie spielen, steht derselbe
Mensch mit seinen begrenzten Möglichkeiten und festgeschriebenen Fehlern. Das Spiel
kopiert das reale Leben – oder kopiert das reale Leben das Spiel? In jedem Fall wiederholen
sich bekannte Muster, werden die immer gleichen Ideen recycelt und beginnt sich alles
im Kreis zu drehen.
Form
Bad Blood macht den Inhalt zur Form und die Form zum Inhalt: eine Endlosschleife.
Wenn die Besucher/innen um 20 Uhr sukzessive den Raum betreten, ist das Spiel bereits
in Gang, und wenn nach 1 h das Spiel wieder von vorne beginnt, dann erleben sie es als
Wiederholung – und als Grund, den Raum wieder zu verlassen –, während für die nun eintretenden
Besucher/innen des zweiten Durchgangs noch alles neu ist. Das Publikum
kommt, das Publikum geht, das Publikum kommt, das Publikum geht – aber die Performance
bleibt gleich. Doch bleibt die Performance wirklich gleich? Denn die Spieler improvisieren
ja, und die Zeit bleibt nicht stehen . . . Ist Wiederholung überhaupt möglich?
Neben der Wiederholung ist das übergeordnete formale Konstruktionsprinzip die Montage.
Wie in der musique concrète, wo viele unterschiedliche Fragmente aus Sprach-, Musikund
Geräuschaufnahmen zu einer neuen Komposition zusammenmontiert und -gemischt
werden, geht es auch hier um das Zusammenfügen eigenständiger Bauelemente: Liveaktion
neben einer Videoprojektion, Jazzimprovisation vor einer Geräuschkulisse, eine Off-
Stimme über einem beleuchteten Objekt im Raum. Das Publikum muss die Verbindung
selbst machen, muss wie bei einem Puzzle die Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammensetzen.
Doch die kontinuierliche Überlagerung und Überblendung, Gleichzeitigkeit und
Mehrfachbelichtung von Ereignissen machen ein vollständiges Erfassen nur schwer möglich.
Das Ausschnitthafte der Wahrnehmung wird zur unvermeidlichen Erfahrung gemacht.
Diese Strategie markiert einen wesentlichen Aspekt der Arbeit.
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August 07 4 4
Komposition und Improvisation
Die Gesamtkomposition aus Ton, Wort und Bild gleicht einer musikalischen Fuge (lat./ital.
fuga "Flucht"), wo 2 bis 4, seltener mehr Stimmen, einander imitierend hinterher laufen.
Doch während es bei der Fuge einzelne Stimmen sind, stehen hier verschiedene virtuelle
Leben zur Disposition. Die Spieler beginnen im ersten erfundenen Leben ein Thema, das
dann nacheinander durch das zweite und dritte Leben geführt wird. Die verschiedenen Leben
sind selbständig und gleichberechtigt, entpuppen sich am Ende aber bloss als Variationen
des Banalen. Und wie bei der Fuge ist ein wichtiges kompositorisches Prinzip auch
hier die kontinuierliche Fortspinnung. Ereignisse wechseln sich übergangslos ab, und es
entsteht ein ununterbrochener Fluss aus Gedanken, Bildern und Klängen.
Das übergeordnete Spielprinzip ist die Improvisation, der direkte Hier-und-Jetzt-Bezug.
Die Spieler improvisieren aber nicht im freien Fall, sondern bewegen sich in komponierten
Strukturen und schöpfen frei aus einem Pool von Ton-, Wort- und Bildmaterial: Improvisation
als Variationen über ein bestimmtes Sujet oder Thema. Zwar kreisen die einzelnen
Ereignisse durch die Technik des Variierens mehr in sich selbst, statt sich gerichtet fortzubewegen,
doch für das Weitertreiben der Komposition sorgen die formalen Prinzipien.
Installation und Performance
Die Besucher/innen schauen nicht von aussen hinein, sondern sie treten ein – und zwar
während die Performance schon läuft. Der Raum füllt sich erst sukzessive, nach einer
Stunde wird das Publikum ausgewechselt, und nach einer weiteren Stunde leert sich der
Raum wieder. Aber die Performance läuft immer noch.
Die Spielfläche gleicht mit seinen zahlreichen Slots und Spots einem Labor, aber auch einem
Ton- und Filmstudio. Mikrofone und Kameras, Lampen und Reflektoren, Kabel und
Musikinstrumente – unzählige Apparaturen stehen bereit zur Erschaffung einer fingierten
Welt. Das Personal dieses Ton/Bild-Labors sind die vier Spieler. Aus Videoloops und Liveaktionen
entwicklen sie collageartige Tableaux vivants und kreieren dazu mit ihren Instrumenten,
Stimmen und selbst gebastelten Geräuschapparaten den passenden Soundtrack.
Ton, Wort und Bild
Sprache, Musik und Geräusche stehen als gleichberechtigte Montageelemente nebeneinander
und verbinden sich zu einem mehrschichtigen, improvisierten Soundtrack. Verwendet
werden einfache Bausteine, die sich dann zu einer komplexen Struktur fügen. Die
Arbeit beschäftigt sich wesentlich mit der musikalischen Beziehung zwischen Sprechstimme,
Jazzphrasierung und Geräusch, und untersucht wird auch die Beziehung zwischen
Live-Klang und gesampeltem Klang. Denn das Spiel um Authentizität und Fake findet seine
Entsprechung in der Gegenüberstellung von Live-Performance und Sample-Wiedergabe.
Dem Projekt liegt kein zusammenhängender Text zugrunde. Die Sprach-Performer/innen
verwenden als Ausgangsmaterial für die Improvisation Wortlisten, Zitate und Textfragmente
– gesammelt und sortiert auf hunderten von Karteikarten. Angelehnt an die Technik des
Stream-of-consciousness entstehen sprachliche Montagen, in denen die Bedeutung der
einzelnen Phrasen weniger gewichtig ist als deren Verknüpfung.
Die Spieler steuern über den Videosampler ihre eigenen Bilder und erschaffen so eine virtuelle
Welt. Auf den Screens erscheinen sie als Avatar, als fingiertes Ich in fingierter Umgebung.
Die Noir-Ästhetik des Bühnenraums wird mit dem comicartigen Do-it-yourself-Stil
des Videos kontrastiert: eine verspielte virtuelle Welt, zusammengesammelt und selbst
gebastelt aus Karton, Stoff und Watte als Gegenentwurf zur harten Realität.