datennaturen

Projekt

Freitag 06.03.2020 – Samstag 07.03.2020

Internationale Tagung: Datennaturen

Daten sind nie einfach gegeben, sondern werden in vielfältigen Prozeduren hergestellt, berechnet und verteilt. Dies gilt insbesondere auch im digitalen Datenraum, der entgegen der Annahme, das Prozessieren von Daten sei eine rein logisch-mathematische Angelegenheit, auf massiven Infrastrukturen aufbaut und den Daten damit einen physischen Körper anhaftet.

Die interdisziplinär angelegte Tagung Datennaturen versteht Daten selbst als Organismen, die bestimmte Lebensbedingungen benötigen und einem Lebenszyklus (data life cycle) unterworfen sind. Sie geht von Praktiken der Datenherstellung und der Datenarbeit anhand konkreter Beispiele aus. Die darin auftauchenden «Naturen» von Daten, also deren stoffliche und genealogische Beschaffenheit, ihre technisch-infrastrukturellen Bedingtheiten von Herstellung und Prozessierung sowie ihren Eigensinn im Zusammenspiel der Akteure, diskutiert die Tagung im erweiterten Kreis mit Biologen, Wissenschaftsforschenden, Künstlerinnen, Kunst- und Medienwissenschaftlerinnen.

Konzeption:
Hannes Rickli (ZHdK)
Birk Weiberg (ZHdK)
Christoph Hoffmann (Universität Luzern)
Gabriele Gramelsberger (RWTH Aachen University)

Freitag, 6. März
17:30 Uhr: Begrüssung
Christoph Schenker, Institute for Contemporary Art Research IFCAR, ZHdK

17:45–19:15 Uhr: Datensätze – Ein Gespräch im Rückblick
Vorstellung des Buchs "Datennaturen" mit Fundstücken aus dem Buntbarsch-Audioarchiv

Computergestützte Technologien der Datenerzeugung und Datenanalyse sind heute fester Bestandteil der täglichen Arbeit in der Biologie. Das gilt nicht nur für die Genomik und ihre Ableger, es gilt ebenso für weniger prominente Teilbereiche wie die Ökologie. Wie hat sich dadurch die Forschung praktisch verändert, welche Rolle spielen Daten, wie stark spielt die notwendige Infrastruktur in den Forschungsprozess hinein, welcher Status kommt Software und Algorithmen zu? Diese Fragen haben die Biologen Philipp Fischer und Hans Hofmann, die Philosophin Gabriele Gramelsberger, der Wissenschaftshistoriker und Biologe Hans-Jörg Rheinberger, der Wissenschaftsforscher Christoph Hoffmann und der Künstler Hannes Rickli im September 2016 zwei Tage lang diskutiert. Unter dem Titel Datennaturen ist das Gespräch nun im Verlag Diaphanes veröffentlicht worden. Zu diesem Anlass nehmen die Beteiligten den Gesprächsfaden noch einmal auf und spinnen einzelne Überlegungen aus den vier Kapiteln Daten, Software, Infrastruktur und in silico weiter. Valentina Vuksic (ZHdK) lässt dazu die digitale Forschungslandschaft akustisch präsent werden.

Moderation: Christoph Hoffmann, Universität Luzern

Apéro riche

20:00 Uhr: Sonic Ecologies
Zwei Konzerte: Simon Grab, "No Input", Marcus Maeder, "Espirito da Floresta"

Sonifikationen von in der Natur erhobenen Daten schaffen einen ästhetischen Zugang nicht nur zu den vermessenen Dingen, sondern auch zu den Messprozessen selbst und ihren Kontexten. In seiner musikalischen Performance untersucht Simon Grab mit einem eigenen Messsystem die bei der Erhebung von Daten zum Einsatz kommenden Verfahren der Rauschunterdrückung.

Marcus Maeder, Mitglied des internationalen Forschungsprojekts AmazonFace, thematisiert in seiner audiovisuellen Performance die unterschiedlichen Ebenen der aktuell wieder zunehmenden Waldrodungen im Amazonasgebiet, indem er CO2-Messungen aus dem bedrohten Regenwald mit Live-Übertragungen eines indigenen Kurzwellen-Piraten-Radiosenders kombiniert.

Einführung: Yvonne Volkart, ZHdK und Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW, Basel

Samstag, 7. März
10:00–12:00 Uhr: Natur und Infrastrukturen

In naturwissenschaftlichen Laboren entstehen gegenseitige Abhängigkeiten zwischen Forschungsobjekten und den Instrumenten, mit denen diese untersucht werden. Hans-Jörg Rheinberger hat hier von epistemischen und technischen Dingen gesprochen. Verlässt man den kontrollierten Raum des Labors, treten die einzelnen Instrumente hinter umfassenderen Infrastrukturen zurück. Diese können selbst zu Forschungsgegenständen bzw. epistemischen Dingen werden. Der Natur kommt dabei eine doppelte Rolle zu, weil sie sowohl Gegenstand der Untersuchung als auch Trägerin der dafür notwendigen Infrastrukturen ist. Gegenüber wissenschaftlichen Infrastrukturen stellen technowirtschaftliche Projekte oft schon aufgrund ihrer Ausmasse einen Einflussfaktor für die Natur dar, in die sie eingebettet sind. Spricht man von Infrastrukturen als Naturen, ist damit eine medienökologische Perspektive eingenommen, die Infrastrukturen selbst als Organismen begreift, die Abhängigkeiten voneinander bilden, Alterungsprozesse durchlaufen und deren Verhältnisse als Phänomene studiert werden. Gerade die Untersuchung technischer Infrastrukturen zeigt sich dabei als produktives Feld, auf dem sich historische, theoretische und künstlerische Methoden treffen.

Hannes Rickli, ZHdK
«Quasi-Objekte und ultimative Infrastruktur. Zur Verwobenheit der Lebensforschung mit ihrem Gegenstand»

Astrid Schwarz, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg «Technowissenschaftliche Assemblagen/Gefüge und ihre ästhetische Praxis»

Nils Güttler, ETH Zürich
«Infrastrukturwissen: Flughäfen und die Geschichte der Umweltwissenschaften»

Moderation: Birk Weiberg, ZHdK

Kaffeepause

12:30–14:30 Uhr: Werkzeuge und Praktiken der Datenarbeit

Die Digitalisierung der Naturwissenschaften zeichnet sich dadurch aus, dass zunehmend Daten als Platzhalter für die eigentlichen Forschungsgegenstände untersucht werden. Die Ergänzung des klassischen wet labs durch das digitale dry lab hat zu neuen Praktiken des Aggregierens, Kalibrierens und Verifizierens von Daten geführt. Neben Daten, die als Spuren von und Referenzen auf Phänomene ausserhalb des Datenraums untersucht werden, sind in silico-Verfahren und andere Formen der Modellierung und Simulation getreten.

Philipp Fischer, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung Helgoland
«Ökologische Forschung zwischen Natur und Computer»

Hans Hofmann, The University of Texas at Austin «Genomische und bioinformatische Einsichten in die Evolution des Verhaltens»

Gabriele Gramelsberger, RWTH Aachen University «Automatisierung des Beobachters»

Hans-Jörg Rheinberger, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin
«Was sind Daten?»

Moderation: Gabriele Gramelsberger, RWTH Aachen University

Apéro riche

15:15 Uhr: Lumpensammler im Datenraum
Vortrag von Peter Bexte, Kunsthochschule für Medien Köln

Moderation: Christoph Hoffmann, Universität Luzern

16:30 Uhr: Ende der Tagung

Die Tagung ist öffentlich, Eintritt frei.
Anmeldung bis 27. Februar 2020 erbeten an: cynthia.matumona@zhdk.ch

Tagungsprogramm zum Download

Die Veranstaltung findet zusammen mit der Ausstellung «Afrikanischer Buntbarsch #3, Soundscape Texas» und dem Konzert «Sonic Ecologies» im Rahmen des Forschungsprojekts «Computersignale» von Hannes Rickli statt und ist unterstützt von: Schweizerischer Nationalfonds SNF, Zürcher Hochschule der Künste und des dortigen Institute for Contemporary Art Research IFCAR. Die Tagung wird ausgerichtet vom IFCAR in Kooperation mit dem Kunstraum Walcheturm.

Datennaturen

Peter Bexte, Kunsthochschule für Medien Köln
LUMPENSAMMLER IM DATENRAUM
Lumpen zu sammeln ist im allgemeinen keine angesehene Beschäftigung und findet eher am Rande statt. Sie kann jedoch in ästhetischen und wissenschaftlichen Kontexten plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten. Dem Dichter Charles Baudelaire galten die Lumpensammler von Paris als seine Brüder. Und Walter Benjamin hat im Lumpensammler eine messianische Gestalt gesehen. Seinen Freund Siegfried Kracauer beschrieb er als Lumpensammler im Morgengrauen des Revolutionstages. Unter einer weniger messianischen als vielmehr systemtheoretischen Perspektive ist zu bemerken, dass Systeme unter anderem durch ihren Abfall charakterisiert werden. Dies gilt auch für Labore. Die Entscheidung, was jeweils in den Papierkorb wandert und was nicht, kann durchaus heikel sein. Jedes Re-entry eines vormals Verworfenen aber verändert das Feld. «Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden.» Dies ahnt der Lumpensammler im Datenraum.

Philipp Fischer, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung Helgoland
OÖKOLOGISCHE FORSCHUNG ZWISCHEN NATUR UND COMPUTER
Polare Gebiete sind Brennpunkte der heutigen Klimaforschung. Die klassische Forscher_in, die sich in diese extremen Gebiete wagt, wird heute zunehmend durch digitale Systeme ergänzt, die ganzjährig vor Ort auch unter extremsten Bedingungen umfassende Datensätze liefern. Das Forschungsgebiet mit seinen dort lebenden Objekten rückt dadurch immer mehr aus dem direkten Fokus und wird durch ein digitales Abbild der Realität ersetzt. Die Herausforderungen dieser Digitalisierung an die Wissenschaftler_in und an die dadurch erforderliche ungewohnte Datenarbeit in den Naturwissenschaften wird am Beispiel eines Forschungsansatzes in der Arktis dargestellt.

Gabriele Gramelsberger, RWTH Aachen University
AUTOMATISIERUNG DES BEOBACHTERS
Die Digitalisierung automatisiert ein Stück weit den menschlichen Beobachter durch die Delegation von Beobachtung und Analyse an Software. Mit Verfahren des maschinellen Lernens verschiebt sich diese Delegation weiter in den Bereich der Software. Dabei stellt sich die Frage, wie sich hier die Praxis der Datenarbeit verändert.

Simon Grab, ZHdK
NO INPUT
Daten, die in realweltlichen Situationen erhoben werden, sind nie sauber – die Präsenz von Rauschen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Rauschen kann auf fehlerhafte Messinstrumente oder Übertragungen zurückzuführen sein, welche die Aussagefähigkeit der Messdaten verfälschen. Verfahren zur Rauschunterdrückung bereiten die Daten für die wissenschaftliche Arbeit vor und führen dabei zusätzliche Datenverzerrungen ein.

Nils Güttler, ETH Zürich
INFRASTRUKTURWISSEN: FLUGHÄFEN UND DIE GESCHICHTE DER UMWELTWISSENSCHAFTEN
Der Flughafen ist historisch gesehen nicht nur ein Ort der Mobilität, sondern immer auch ein Ort der angewandten Wissenschaften gewesen. Das örtliche Klima, die komplexen Verkehrs-, Betriebs- und Logistikabläufe und nicht zuletzt die oft verheerenden Auswirkungen des Luftverkehrs auf die Bevölkerung wie Luftverschmutzung und Lärm, führten dazu, dass gerade die grossen Flughäfen sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein spezifisches regionales Wissen aneignen mussten, um in ihrer sozialen und natürlichen Umgebung funktionieren zu können. Dabei haben Luftverkehrshubs wie Frankfurt auf verschiedenen Ebenen Wissen über technische und natürliche Umwelten produziert und sie haben die Vorstellung davon, was Umwelt ist, schleichend verändert.

Hans Hofmann, The University of Texas at Austin
GENOMISCHE UND BIOINFORMATISCHE EINSICHTEN IN DIE EVOLUTION DES VERHALTENS
Studien zu den neuralen und genetischen Grundlagen des Sozialverhaltens werden überwiegend experimentell und an einigen wenigen Modellsystemen durchgeführt. Moderne Ansätze der Genomforschung – unterstützt von Bioinformatik, Statistik und Supercomputern – ermöglichen es uns, gleichwertige Erkenntnisse durch eine phylogenetisch vergleichende Herangehensweise zu gewinnen. Der typische Ablauf eines solchen Projektes wird diskutiert und mit der traditionellen Arbeitsweise der Verhaltensneurobiologie verglichen.

Marcus Maeder, ZHdK und ETH Zürich
ESPÍRITO DA FLORESTA
Audiovisuelle Performance unter Verwendung von Datensonifikationen von CO2-Messungen und Live-Übertragung eines indigenen Kurzwellen-Piraten-Radiosenders.
Der Amazonas-Regenwald ist bedroht. Einerseits haben die Waldrodungen in den letzten Monaten wieder dramatisch zugenommen. Zum anderen ist es wahrscheinlich, dass sich der Wald mit der zunehmenden atmosphärischen CO2-Konzentration und Temperatur in einen saisonalen Regenwald oder in eine Steppe verwandeln wird. Die lokalen sozioökonomischen und globalen klimatischen Folgen wären verheerend. Das Forschungsprojekt AmazonFace, an dem mehr als 30 internationale Institutionen beteiligt sind, untersucht die Auswirkungen des erhöhten atmosphärischen CO2-Gehalts auf den Regenwald und seine Fähigkeit, sich an die sich schnell ändernden klimatischen Bedingungen anzupassen.

Hans-Jörg Rheinberger, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin
WAS SIND DATEN?
«Datenarbeit» kann man doppelt verstehen. Meistens wird damit der Umgang mit existierenden Daten gemeint. Sie werden also vorausgesetzt. In die Erzeugung von Daten muss aber auch Arbeit investiert werden. Diese wird meist übersehen. Das soll an einem Beispiel grundsätzlich verdeutlicht werden.

Hannes Rickli, ZHdK
QUASI-OBJEKTE UND ULTIMATIVE INFRASTRUKTUR. ZUR VERWOBENHEIT DER LEBENSFORSCHUNG MIT IHREM GEGENSTAND
Im Sammelbegriff «Natur» vermengen sich Materien, Stoffe und Energien mit Technologien und Diskursen, die ihre Erforschung ermöglichen und gesellschaftlich verhandelbar machen. Wird diese Mélange als ein Verhältnis aufgefasst, in dem menschliche und nicht-menschliche Akteure miteinander interagieren, stellen sich Fragen: wer oder was steuert und kontrolliert die Interaktionen? Welche Eigenmächtigkeiten, Kräfte und Interessen setzen die Akteure ein und wie kommunizieren und realisieren sie diese untereinander? Der Philosoph Michel Serres nennt Dinge, die solches in einem «Kollektiv» bewerkstelligen, «Quasi-Objekte». Normalerweise operieren sie unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle. Als Künstler folgte ich in den letzten Jahren zusammen mit meinem Team den Spuren der Infrastrukturen von Forschungsunternehmen in Austin, Texas, und an der Küste von Spitzbergen. Die aufgezeichneten Geräusche und Bilder machen erfahrbar, wie sich die Natur vom Objekt zum organisierenden Medium und zur ultimativen Infrastruktur ihrer eigenen Beobachtung verwandelt.

Astrid Schwarz, Brandenburgische Technische Universität, Cottbus-Senftenberg
TECHNOWISSENSCHAFTLICHE ASSEMBLAGEN/GEFÜGE UND IHRE ÄSTHETISCHE PRAXIS
Die Widerständigkeit der Dinge verhilft dem Menschen zu einer relativen Unabhängigkeit von der Natur. Erlebt sich der Mensch nicht mehr in einer widerständigen Welt, so Hannah Arendt, verliert er auch seine Verankerung. Die Herstellung und der Gebrauch von Dingen konstituieren für diesen Homo faber seine Umwelt. Wissen und Handeln stehen in Relation zu technowissenschaftlichen Assemblagen oder Gefügen, in der Wissenschaft wie im Alltag. Die Aushandlung und Erhaltung dieser Gefüge ist ökonomisch und politisch, epistemisch und ästhetisch von höchster Relevanz, das gilt gleichermassen für Smartphones, Modellorganismen, Bahnnetze oder Landschaften. In meinem Vortrag möchte ich untersuchen, was eine «politische Ökologie der Dinge» (Jane Bennett) beitragen kann zur Charakterisierung sozio-technischer Gefüge. In diesem Zusammenhang interessiere ich mich für die Bedeutung von Abweichungen und Irregularitäten in einer ästhetischen Praxis des Bastelns und Reparierens, des Experimentierens und Improvisierens.

Valentia Vuksic, ZHdK
FUNDSTÜCKE AUS DEM BUNTBARSCH-AUDIOARCHIV
Der Buntbarsch ist der Ausgangspunkt der Forschungsarbeit am Hofmann Lab in Austin. In dem 16 x 24 Stunden umfassenden Audioarchiv der vom Lab direkt oder indirekt in Anspruch genommenen Infrastruktur – vom Ultratiefkühlschrank über den RNA/DNA-Scanner bis zum Supercomputer und dem Fracking-Bohrturm in Crane County – ist der Fisch dennoch nicht zu hören. Zur Buchvorstellung spiele ich kurze Ausschnitte aus den am 21. August 2014 mit elektromagnetischen Pickups und Kontaktmikrofonen synchron aufgezeichneten Klängen dieser Geräte.

Bild: Fracking-Bohrturm, Crane County, UT Lands, @ Birk Weiberg, Hannes Rickli